Sozialkredit-System in China und Datenkapitalismus im Westen – Herrschaft durch Scoring und datengestützte Simulation von Gesellschaft
Konferenz und Buchvorstellung
Beschreibung
Wir alle nutzen soziale Medien im Internet, lassen uns durch Karten-, Spiele- oder Wetter-Apps orten, mit Wearables vermessen und befragen Suchmaschinen nach allem, was wir wissen wollen. Wie weit sind wir bereits abhängig, werden manipuliert und kontrolliert? Welche Konzerne und politischen Interessengruppen nutzen die Einfluss-Möglichkeiten des Internets für kommerzielle oder politische Zwecke in liberalen Gesellschaften? Wie nutzen autoritäre Regierungen diese Einfluss-Möglichkeiten zum Machterhalt gegenüber ihren Bürger*innen? In welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben? Wie ist das enorme Machtgefälle zwischen betroffenen Usern und datenverarbeitenden Organisationen zu bewerten, vielleicht sogar zu ändern, zumal die städtische Lebensumgebung in Form von Smart Cities komplett datafiziert werden wird? Wie unterscheiden sich fernöstliche Indoktrination mittels ubiquitärer Überwachung und Steuerung vom datenbasierten Manipulationskapitalismus im Westen?
Chinas Sozialkredit-System erscheint als Realisierung dystopischer Simulationen, Prognosen oder als moderne staatliche Kybernetik. Wir untersuchen, was Kredit-Scoring, Schufa, Creditreform, Facebook, Bonussysteme von Krankenkassen, Payback-Systeme, Videoüberwachung, staatliche und private Datensammlunge in Europa voneinander unterscheidet und wie der Zusammenhang zwischen dem Internet als Kommunikations-Infrastruktur und als rezenter Herrschaftstechnik zu beschreiben ist. Die Tagung erörtert, welches Gewicht digitalisierte Systeme erlangen, wenn sie etwa in automatisierter Rechtsprechung eingesetzt werden.
Auf der Konferenz erörtern Sinologen, Informatikerinnen, Kommunikations-, Medien-, Politik- und Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen diese Fragen anhand von Beispielen innerhalb und außerhalb Chinas. Die Wissenschaftlerinnen bieten vielfältige Perspektiven auf ein globales Phänomen an, sie diskutieren auch Fragen um die sogenannte Smart-City als Ziel von (Alb-)Träumen digitalisierter Kontrolle.
Original-Texte der Konzeption und Ausgestaltung des Sozialkredit-Systems liegen jetzt in deutscher Übersetzung vor und werden in Buchform auf der Konferenz vorgestellt: M. Woesler und M. Warnke (Hg.) Sozialkybernetik in statu nascendi – Die Entstehungsgeschichte des chinesischen Sozialkreditsystems. Berlin: Matthes & Seitz 2021.
Konferenz-Sprache ist Deutsch.
Die Tagung wird online stattfinden. Wir danken dem Institute for Advanced Study „Medienkulturen der Computersimulation“ (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg für die technische Organisation und Betreuung.
Programm
Freitag, 18.06.2021
9:00 Uhr | Ankommen |
9:20 Uhr | Begrüßung |
I Aspekte des Datenkapitalismus, Selbstdarstellung, Kontrolle und Widerstand | |
9:30-10:00 Uhr | Andreas BernardKomplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur |
10:00-10:20 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
10:30-11:00 Uhr | Wolfgang Coy›Wir schaffen Vertrauen!‹ Bewertung von Schuldfähigkeit durch die SCHUFA und ähnliche Einrichtungen |
11:00-11:20 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
11:30-12:00 Uhr | Kaffeepause |
12:00-12:30 Uhr | Andrea Knaut |
12:30-12:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
13:00-13:30 Uhr | Linus Neumann |
13:30-13:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
14:00-15:00 Uhr | Mittagspause |
II Zum Stand des Sozialkredit-Systems in der VR China | |
15:00-15:30 Uhr | Martin WarnkeSozialkybernetik in statu nascendi – Die Entstehungsgeschichte des chinesischen Sozialkreditsystems |
15:30-15:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
16:00-16:30 Uhr | Antonia Hmaidi |
16:30-16:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
17:00-17:30 Uhr | Martin Woesler |
17:30-17:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
18 Uhr | Schluss |
Samstag, 19.06.2021
9:30 Uhr | Ankommen |
III Sozialkredit-System in der VR China in Wirtschaft und Recht | |
10:00-10:30 Uhr | Doris Fischer |
10:30-10:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
11:00-11:30 Uhr | Marianne von Blomberg |
11:30-11:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
12:00-13:00 Uhr | Mittagspause |
IV Die Zukunft mit Sozialkredit-Systemen – Technologische Herrschaft | |
13:00-13:30 Uhr | Rainer Rehak |
13:30-13:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
14:00-14:30 Uhr | Thomas WinklmeierCalifornia über allem – Die Smart City als kybernetisches Projekt |
14:30-14:50 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
15:00-15:30 Uhr | Kaffeepause |
15:30-16:00 Uhr | Katika Kühnreich |
16:00-16:20 Uhr | Rückfragen und Diskussion zum Vortrag |
16:30 Uhr | Ende des Vortragsprogramms. |
Im Anschluss besteht die Möglichkeit zum Austausch zwischen Referierenden und Teilnehmenden. |
Veranstalter:
- Gesellschaft für Informatik, Fachgruppe „Internet und Gesellschaft“
- Institute for Advanced Study „Medienkulturen der Computersimulation“ (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg
- Deutsche China-Gesellschaft
Programmausschuss:
Wolfgang Coy
Andrea Knaut
Katika Kühnreich
Martin Warnke
Martin Woesler
Referent*innen
Andreas Bernard
Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften am „Centre for Digital Cultures“ der Leuphana-Universität Lüneburg. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er auch als Journalist tätig. Von 1995 bis 2014 war er Autor und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, derzeit schreibt er für das Feuilleton und das Magazin der ZEIT. Buchpublikationen u.a.: Die Geschichte des Fahrstuhls: Über einen beweglichen Ort der Moderne (2006), Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie (2014), Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur (2017), Das Diktat des Hashtags (2018), Laufende Ermittlungen (2020).
Marianne von Blomberg
Marianne von Blomberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Projekt “The Social Credit System as a Challenge for Law and Courts in China” der Universität zu Köln. Ihre Dissertation befasst sich mit der Frage, wie das Sozialkreditsysteme konventionelle Formen von Recht stärken, unterwandern, und transformieren. Nach dem Abschluss des Bachelors in Kommunikationswissenschaften absolvierte sie in Hangzhou ein Masterstudium des chinesischen Rechts und war als Praktikantin bei der Volkswagen AG, dem Mercator Institute for China Studies (MERICS) und der Deutschen Botschaft in Ottawa tätig.
Wolfgang Coy
Wolfgang Coy ist Informatiker. Er ist emeritierter Professor für Informatik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Leiter der Arbeitsgruppe Informatik in Bildung und Gesellschaft mit den Forschungsschwerpunkten Digitale Medien, Informatik und Gesellschaft, Geistiges Eigentum, Theorie der Informatik, Sozial- und Kulturgeschichte der Informatik, Fachdidaktik der Informatik sowie philosophische, ethische und theoretische Fragen der Informatik.
Doris Fischer
Prof. Dr. Doris Fischer ist seit März 2012 Inhaberin des Lehrstuhls China Business and Economics an der Universität Würzburg.
Antonia Hmaidi
Antonia Hmaidi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for East Asian Studies und der Mercator School of Management der Universität Duisburg-Essen. Für ihr Projekt zum Sozialkreditsystem war sie im Rahmen des Young Sinologist Programs an der Peking University. Sie hat einen B.A. in Wirtschaft und Politik Ostasiens von der Ruhr-Universität Bochum und einen M.A. in International Relations vom Graduate Institute, Genf. In ihrer Freizeit engagiert sie sich beim Chaos Computer Club.
Andrea Knaut
Dr. Andrea Knaut ist Informatikerin. Sie beschäftigt sich mit Fragen aus Informatik und Gesellschaft, insbesondere mit den Diskursen und der Aufklärung über Fehler von (biometrischen) Überwachungstechniken. Sie ist Sprecherin der Fachgruppe „Internet und Gesellschaft“ und hat 2018 und 2019 bei der Gesellschaft für Informatik das mobile Bildungsprojekt Turing-Bus geleitet.
Katika Kühnreich
Katika Kühnreich studierte Politikwissenschaften und Moderne und Ältere Sinologie in Deutschland und China. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung der Umgang mit Dissens. Sie arbeitet seit Jahren zu Formen der digitalisierten sozialen Kontrolle und erreichte mit ihren Vorträgen und Veröffentlichungen zu den chinesischen Social Credit Systemen internationale Bekanntheit.
Linus Neumann
Linus Neumann ist Hacker und Psychologe. Als Sprecher des Chaos Computer Clubs engagiert er sich für eine lebenswerte digitale Utopie. Er bereits mehrfach Sachverständiger in Ausschüssen des Deutschen Bundestags, beispielsweise zu den IT-Sicherheitsgesetzen und zu Ausweitungen der Befugnisse zum Einsatz von Staatstrojanern. Zusammen mit Thorsten Schröder analysierte er den Staatstrojaner “FinSpy” im Rahmen einer Strafanzeige der Gesellschaft für Freiheitsrechte.
Rainer Rehak
Rainer Rehak studierte Informatik und Philosophie in Berlin, Hongkong und Peking. Er promoviert am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft zu systemischer IT-Sicherheit. Er forscht und lehrt zu den Themen Datenschutz und IT-Sicherheit, staatlichem Hacking, Quantifizierung, Nachhaltigkeit sowie Technikzuschreibungen. Er ist technischer Sachverständiger – etwa für Parlamente oder das Bundesverfassungsgericht – und Ko-Vorsitz des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF).
Martin Warnke
Dr. Martin Warnke ist theoretischer Physiker und Informatiker. Er ist Professor für digitale Medien und Kulturinformatik am Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien (ICAM) der Leuphana Universität Lüneburg und Direktor der DFG-Forschergruppe „Medienkulturen der Computersimulation“ (MECS).
Thomas Winklmeier
Thomas Winklmeier studiert Kulturwissenschaften an der FernUniversität in Hagen. Zuvor studierte er Philosophie und Politik in Heidelberg, Berlin und Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Digitalisierung und der Ethik der digitalen Gesellschaft. Zur Zeit schreibt er an einer Arbeit zum Thema „Die digitale Gesellschaft als kybernetisches Projekt“ und referiert über Großstadt als paradigmatischer Ort der Digitalisierung.
Martin Woesler
Dr. Martin Woesler, Leiter China Competence Center, GKLS-Lehrstuhl, Universität Witten/Herdecke und Jean Monnet Chair Professor / Distinguished Professor, Hunan Normal University. Sinologie-Studium in Bochum und Peking, Gastaufenthalte an der Harvard-Universität, Professuren in den USA, Italien, Deutschland und China. Forschung zum chinesischen Sozialkredit-System, Social Management-System, Vergleich China-Deutschland/China-Europa, Digitalisierung, chinesisches Datenrecht, Künstliche Intelligenz, Big Data, digitale Fremdsteuerung. Hg. Band Ethik der Informationsgesellschaft, mit M. Warnke (Hg.) Sozialkybernetik / Sozialkredit-System. Berlin: Matthes & Seitz 2021.
Anmeldung
- Kosten
- Kostenlos
- Hinweis
- Zu dieser Veranstaltung können Sie sich online anmelden.
- Anmeldefrist
- 17.06.2021