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Auch Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung gefährden die Demokratie

Stellungnahme der Fachgruppe Internet und Gesellschaft

Die Fachgruppe Internet und Gesellschaft der Gesellschaft für Informatik e.V. beurteilt die „Quick Freeze“-Alternative zur Vorratsdatenspeicherung ebenfalls als eine problematische Datensammlung und fordert Lösungen, die den technologischen als auch sozialen Entwicklungen gerecht werden. 

11. November 2022

Die aktuelle Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung hat mit dem Referentenentwurf des vom Ministeriums für Justiz (BMJ) für ein „Gesetz zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung“1 (vulgo „Quick-Freeze-Verfahren“) neue Spielarten bekommen. Argumente gegen die bisherige Vorratsdatenspeicherung greifen im Wesentlichen aber auch gegen das Quick-Freeze-Verfahren. Beide Methoden der Datensammlungen haben das Potenzial, grundlegende Freiheiten zu bedrohen.

„Technologische Veränderungen haben Auswirkungen auf Gesellschaft und Justiz. Ständig wachsende Datenberge, die immer detailliertere Auskunftsmöglichkeiten über Individuen und Firmen beinhalten, wecken international Begehrlichkeiten bei Wirtschaft, Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden. Doch sowohl das anlasslose und flächendeckende Sammeln dieser Daten als auch die Nutzung zur Strafverfolgung widersprechen Grundrechten, so Katika Kühnreich von der FG Internet und Gesellschaft.

Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 20. September 2022 erneut die Unvereinbarkeit der deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) mit EU-Recht festgestellt hatte, forderte Innenministerin Faeser postwendend die direkte, erneut anlasslose und flächendeckende Speicherung von IP-Adressen. Nur kurze Zeit später brachte das BMJ mit dem Quick-Freeze-Verfahren ein scheinbar neues Instrument ins Rennen. Zwar bietet dieses Verfahren auch Vorteile gegenüber der vom EuGH kassierten Vorratsdatenspeicherung, zumindest von Seiten der rechtsstaatlichen Prinzipien, etwa den Richtervorbehalt. Die Grundproblematik einer Datensammlung im großen Umfang besteht aber auch hierbei. 

Große Datensammlungen erzeugen große Probleme

Große Datensammlungen gefährden die Demokratie. Sie sind rechtsstaatlich fragwürdig und allzu oft nicht vereinbar mit europäischem Recht. So stellt sich die Frage, wie und wo die gesammelten Daten gespeichert werden, wer Zugriff darauf erhält und mit welchen anderen Stellen sie geteilt werden. Die Enthüllungen von Edward Snowden belegten vor neun Jahren, dass Datenaustausch auf internationaler Ebene gang und gäbe ist. Diese Praxis bestätigt sich durch eine Anfrage bzgl. des Datenaustausches im Rahmen des SWIFT-Abkommens an das Europäische Parlament in diesem Jahr.2 Zudem ist jede Datensammlung hackbar und missbrauchbar – aus dem In- und Ausland. Hier wiegt besonders schwer, dass einmal kompromittierte Informationen irreperabel sein können und betroffene Menschen einem dauerhaften Missbrauch ausgesetzt bleiben. Neben der politischen Dimension muss ebenfalls bedacht werden, dass solche Sammlungen Möglichkeiten zur Industrie- und Wirtschaftsspionage eröffnen. Die damit verbundenen Schäden für die Privatwirtschaft im internationalen Wettbewerb sind nicht zu unterschätzen.

Vorratsdatenspeicherung und die Pflicht zur Klarnamenregistrierung sind gängige Werkzeuge autoritärer Regierungen. Selbst ohne Hintergedanken werden mit solchen Sammlungen technische Infrastrukturen geschaffen, die später für autoritäre Zwecke missbraucht werden können. Datensparsamkeit muss daher grundsätzlich die Devise aller demokratischen Staaten sein. Technologische Lösungen gegen Gewaltdarstellung wie auch die Uploadfilter – oder das proaktive Scannen nach solchen Inhalten auf Rechnern und Handys aller Bürger*innen – zerstören ausschließlich die Privatsphäre und untergraben damit das Vertrauen in einen freiheitlichen demokratischen Staat. Die Volksrepublik China zeigt anschaulich, wie große Datensammlungen, Klarnamenregistrierungen und deren hochautomatisierte Auswertung zur Gängelung der Bevölkerung genutzt werden können.

IP-Adressen sind persönliche Daten

Vorschläge wie der von Innenministerin Faeser zur Speicherung von IP-Adressen sind demokratietheoretisch und aus dem Blickwinkel der Informatik ein Problem und keine Lösung. IP-Adressen sind keinesfalls harmlose oder anonyme Zahlenkolonnen. IP-Adressen sind personenbezogene Daten, die als solche besonders schützenswert sind.3

Datenschutz dient nicht den Daten, sondern garantiert den Schutz von Menschenrechten

Das Urteil des EuGH im September stellt gegenüber der Bundesregierung erneut klar, dass flächendeckende und anlasslose Überwachung der europäischen Bevölkerung verboten war, ist und bleibt. Schon zu den Versuchen in den vergangenen Jahrzehnten, eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen, wurde von Seiten des Datenschutzes, der freien Wirtschaft und von Menschenrechtsgruppen auf die Gefahren solcher Sammlungen hingewiesen. Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um eine anlasslose Überwachung. Diese stellt erstens eine Umkehrung der Unschuldsvermutung dar und widerspricht so einer der wichtigsten Grundlagen des modernen Rechtsstaats. Zweitens werden Unternehmen zu Handlangern des Staates, indem sie verpflichtet werden, Daten zu speichern, die sie gar nicht besitzen wollen. Drittens steigt die potenzielle Gefahr des Missbrauchs für andere Zwecke. Viertens ist die Grundlage für eine Berechnung und Manipulation unseres Verhaltens schon dadurch mehr und mehr gegeben, dass wir in unserem täglichen Leben immer mehr Daten erzeugen. Fünftens stellen solche Datensammlungen Eingriffe in die zentralen Schutzbereiche bestimmter Berufsgruppen oder Amtsträger, die der Verschwiegenheitspflicht oder Schweigepflicht unterliegen. Dazu gehören beispielsweise Anwält*innen, Seelsorger*innen, Mediziner*innen und Journalist*innen. Datenschutz ist somit immer ein Schutz von Menschenrechten und ein wesentliches Merkmal freiheitlicher Demokratien.

(Vorrats-) Datenspeicherungen sind kein Mittel, um Kinder zu schützen

Zudem entbehrt das Hauptargument für die Datensammlung, der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt, jeglichen wissenschaftlichen Belegs. Schon 2011 stellte das Max-Planck-Institut fest, dass die Vorratsdatenspeicherung kein wirksames Instrument gegen Kinderpornographie ist.4 Trotzdem wird dieses Argument zu jeder Art der Datensammlung angeführt. Dies gleicht der in der Boulevardpresse verwendeten Art der emotionalen Beeinflussung, durch die das Leid von Kindern missbraucht wird.

Dabei gibt es durchaus Alternativen zur (Vorrats-)Datenspeicherung, etwa in Form von Internetbeschwerdestellen wie INHOPE und der Beschwerdestelle des Verbands für Internetwirtschaft eco.5 Laut des Transparenz- und Jahresberichts von eco für 2021 wurden 100 Prozent der gemeldeten Darstellungen sexuellen Missbrauchs innerhalb von 2,65 Tagen gelöscht.6 Dadurch wurde ein wichtigerer Beitrag zum Kinderschutz geleistet, als es passive Datenspeicherung je könnte. Neben der konsequenten Löschung der Daten sollte in der analogen Sphäre über effektive Präventions- und Detektionsmöglichkeiten nachgedacht werden.

Gesellschaftliche Probleme sind nicht technologisch lösbar

Sexualisierte Gewalt an Kindern und deren Dokumentation ist kein Problem der Digitalisierung. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, das wie andere gesellschaftliche Probleme auch nicht technologisch lösbar ist. Stattdessen wird Gewalt gegen Kinder seit Jahrzehnten fälschlich zur Meinungsmache benutzt. 

Debatte verfehlt zentrale Frage

Während die Debatte um Vorratsdatenspeicherung und Quick-Freeze-Verfahren durch das Hauptargument des Kindesmissbrauchs oberflächlich und emotional geführt wird, umgeht sie die zentrale Frage: Inwieweit wollen sich Demokratien den Lockungen technologischer Möglichkeiten der Überwachung, hier in der Form von Datenspeicherung und -auswertung, hingeben und somit immer weiter von den menschenrechtlich garantierten individuellen Freiheiten und dem rechtsstaatlichen Grundprinzip der Unschuldsvermutung entfernen?

Die Fachgruppe Internet und Gesellschaft der Gesellschaft für Informatik fordert Lösungen, die den technologischen als auch sozialen Entwicklungen gerecht werden. In einer Demokratie stehen wir alle in der Verantwortung und haben ein Recht auf Privatsphäre. Es ist daher an der Zeit, dass politische Entscheidungsträger*innen und Strafverfolgungsbehörden sinnvollere Möglichkeiten zur Strafverfolgung im Internet nutzen. Dazu gehört, mehr und besser qualifiziertes Personal einzusetzen und von ”Dual Use“-Gesetzgebung in den grundrechtssensiblen Bereichen des digitalen Raums Abstand zu nehmen.